Aktuelle Pressemitteilungen

GDF-15-Blockade: Ein Türöffner für die Immuntherapie

VALIDIERUNG VON GDF-15 ALS THERAPEUTISCHES ZIELMOLEKÜL ZUR VERBESSERUNG DER IMMUNANTWORT GEGEN TUMORE

Erste klinische in Nature publizierte Studie mit dem anti-GDF-15-Antikörper Visugromab in Kombination mit dem Immun-Checkpoint-Inhibitor Nivolumab bei fortgeschrittenem Krebs bestätigt den Erfolg der Forschung „from bench to bedside“. Wichtige Vorarbeiten leistete die Arbeitsgruppe von Prof. Jörg Wischhusen am Uniklinikum Würzburg (UKW) mit der Erkenntnis, dass der Wachstums- und Differenzierungsfaktor 15 (GDF-15) die Wirkung von Immuntherapien wie anti-PD-1 hemmt, mit dem Konzept zur Verbesserung der Immuninfiltration in Tumore durch GDF-15-Blockade sowie mit der Entwicklung und Patentierung von anti-GDF-15-Antikörpern.

 

Das Bild zeigt wie der pink eingefärbten Antikörper den in vielen soliden Tumoren stark überexprimierte Wachstums- und Differenzierungsfaktor GDF-15 blockiert.
Der Antikörper Visugromab (dargestellt in pink) blockiert gezielt den Wachstums- und Differenzierungsfaktor 15 (GDF-15, dargestellt in orange). Durch die Neutralisierung von GDF-15 kann Visugromab das Immunsystem dabei unterstützen, Tumore effektiver anzugreifen und Resistenzen gegen Immuntherapien zu überwinden. © CatalYm

Würzburg. Eigentlich sollen Immun-Checkpoint-Moleküle die Aktivität des Immunsystems regulieren. Die speziellen Proteine auf der Oberfläche von Immunzellen wirken dabei oft als Bremse, damit das Immunsystem nicht versehentlich gesunde Zellen angreift. Bestimmte Tumorzellen können diese Immun-Checkpoints jedoch ausnutzen, um eine Immunantwort gegen sich selbst zu verhindern. Ein bekanntes Immun-Checkpoint-Molekül ist PD-1, kurz für Programmed Cell Death 1. Bindet der von vielen Tumoren exprimierte Ligand PD-L1 an diesen Rezeptor, wird die Immunzelle regelrecht entwaffnet. Krebsimmuntherapien, die diese Immun-Checkpoint-Moleküle mit Antikörpern blockieren, haben die Behandlung vieler Krebsarten verbessert. Allerdings spricht nur eine Minderheit der Patientinnen und Patienten auf diese Immuntherapie an. Ein Grund dafür sind bestimmte von Tumorzellen produzierte, lösliche und zellgebundene immunsuppressive Faktoren. Ein Beispiel hierfür ist GDF-15.

GDF-15-Blockade verstärkt anti-PD-1- Immuntherapie 

Dass und wie der in vielen soliden Tumoren stark überexprimierte Wachstums- und Differenzierungsfaktor GDF-15 (Growth/Differentiation Factor 15) effektive Immunantworten gegen Tumore verhindert, zeigten die Universitätsmedizin Würzburg und ihr Spin-Off CatalYm im vergangenen Jahr erstmals im Wissenschaftsjournal Nature Communications. Die tumorimmunologische Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Jörg Wischhusen an der Frauenklinik des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) konnte in präklinischen Modellen demonstrieren, dass eine Blockade von GDF-15 die etablierte Anti-PD-1-vermittelte Immuntherapie verstärkt. Auch die zur GDF-15-Blockade eingesetzten Antikörper wurden in Würzburg entwickelt. Die entsprechenden Patente wurden von der Julius-Maximilians-Universität an die Ausgründung CatalYm GmbH 2016 auslizenziert, die inzwischen ihren Sitz in München hat und seitdem rund 250 Millionen Euro an Venture-Kapital einwerben konnte.

Validierung der präklinischen Untersuchung in klinischer Studie 

Die Erkenntnis, dass GDF-15 die Einwanderung von Immunzellen in das Tumormikromilieu und damit den Erfolg von Immuntherapien verhindert, und das daraus abgeleitete Konzept der GDF-15-Blockade wurden nun in einer klinischen Phase-1/2a-Studie validiert und die Daten in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht. Die Translation erfolgte durch CatalYm, unterstützt von einem Konsortium klinischer Studienzentren, darunter das von Dr. Maria-Elisabeth Göbeler und Professor Ralf Bargou geleitete Interdisziplinäre Studienzentrum am Comprehensive Cancer Center Mainfranken (CCC MF) mit der Early Clinical Trial Unit (ECTU). 

In der sogenannten GDFATHER-1/2a-Studie (NCT04725474) wurden Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen, die auf etablierte Therapien inklusive anti-PD1 Therapien nicht mehr ansprachen, mit dem neutralisierenden Anti-GDF-15-Antikörper Visugromab in Kombination mit dem Anti-PD-1-Antikörper Nivolumab behandelt. Zwei Krebsarten, bei denen GDF-15 besonders häufig zu einer schwächeren Immunantwort führt, sind nicht-kleinzelliger Lungenkrebs und Blasenkrebs. Das Studienteam beobachtete bei einigen der eigentlich austherapierten Patientinnen und Patienten eine außergewöhnliche Dauer und Tiefe des Ansprechens. In einigen Fällen kam es sogar zu einem vollständigen Tumorrückgang - „komplette Remission“. Zudem erwies sich die Therapie als sehr gut verträglich. 

Hoffnungsvolles Konzept zur Behandlung solider Tumore

In Übereinstimmung mit den präklinischen Daten wurden vermehrt aktivierte, tumorinfiltrierende Immunzellen nachgewiesen. „Die Blockade von GDF-15 ist damit ein vielversprechender neuer Ansatz, um die Resistenz gegen Immun-Checkpoint-Inhibition bei Krebs zu überwinden“, freut sich Jörg Wischhusen. „Da die Studienergebnisse unsere wissenschaftlichen Vorarbeiten voll bestätigen, ist dies ein Musterbeispiel für eine erfolgreiche Translation ‚from bench to bedside‘.“

Entscheidend für den Erfolg der Studie waren laut Wischhusen das exzellente klinische Entwicklungs-Team der CatalYm GmbH um Chief Medical Officer Prof. Dr. Eugen Leo, die Biomarkerspezialistin Dr. Kathrin Klar und die Leiterin Clinical Operations Dr. Petra Fettes sowie die mitwirkenden Studienzentren, die mit großem Engagement die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer rekrutierten. Als Lead Investigator konnte mit Ignacio Melero von der Universidad de Navarra einer der international renommiertesten Spezialisten für Tumorimmuntherapie gewonnen werden, der die klinische Umsetzung „mit höchster Kompetenz und ansteckendem Enthusiasmus begleitet hat“, so Wischhusen. Insgesamt waren 76 Autorinnen und Autoren an der Studie beteiligt, für Würzburg neben Jörg Wischhusen u.a. Maria-Elisabeth Goebeler und Cyrus Sayehli als Principal Investigators der Studie und Ralf Bargou als Mitglied des Advisory Boards.

Wirkmechanismen noch besser verstehen und in früheren Tumorstadien testen

Wie geht es weiter? „Wissenschaftlich wäre es wünschenswert, den Wirkmechanismus noch besser zu verstehen. Bisher wissen wir noch nicht, warum manche Patientinnen und Patienten auf die Kombinationstherapie ansprechen und andere nicht“, so Wischhusen. Klinisch soll die neue Therapie nun in kontrollierten randomisierten Studien bei Patientinnen und Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom in früheren Tumorstadien in Kombination mit einer Immunchemotherapie getestet werden. Dazu die Leiterin der interdisziplinären ECTU Maria-Elisabeth Goebeler: „Der Start für diese Phase II Studie ist für das erste Quartal 2025 zu erwarten. Wir freuen uns, dass die ECTU des UKW diese attraktive Studie für unsere Patientinnen und Patienten anbieten wird.“ Bargou, Direktor des CCC Mainfranken, spricht Visugromab viel Potential für zukünftige Behandlungsansätze zu und meint: „Grundsätzlich könnte Visugromab auch die Wirksamkeit anderer Immuntherapien verbessern, etwa mit CAR-T-Zellen oder bispezifischen Antikörpern, verbessern. Zudem ist davon auszugehen, dass der Antikörper auch bei anderen Tumorentitäten wirksam ist.“

Publikation: Melero, I., de Miguel Luken, M., de Velasco, G. et al. Neutralizing GDF-15 can overcome anti-PD-1 and anti-PD-L1 resistance in solid tumours. Nature (2024). https://doi.org/10.1038/s41586-024-08305-z

Pressemeldung von CatalYm: CatalYm Highlights Visugromab’s Potential to Treat Cachexia in Cancer Patients at International SCWD Conference

Pressemeldung vom 20. Juli 2023 anlässlich der Publikation in Nature Communications zur Wirkung des Zytokins GDF-15 auf die LFA-1/Zelladhäsionsachse bei Tumor-assoziierten T Zellen.

Text: Kirstin Linkamp / UKW
 

Das Bild zeigt wie der pink eingefärbten Antikörper den in vielen soliden Tumoren stark überexprimierte Wachstums- und Differenzierungsfaktor GDF-15 blockiert.
Der Antikörper Visugromab (dargestellt in pink) blockiert gezielt den Wachstums- und Differenzierungsfaktor 15 (GDF-15, dargestellt in orange). Durch die Neutralisierung von GDF-15 kann Visugromab das Immunsystem dabei unterstützen, Tumore effektiver anzugreifen und Resistenzen gegen Immuntherapien zu überwinden. © CatalYm

Roboter mit Waschanlage für Killerzellen gegen Krebs

Am UKW wird ein Prototyp für automatisierte und digitalisierte CAR-T-Zellherstellung aufgebaut

Alle beim Aufbau beteiligten tragen einen weißen Kittel und posieren vor der Anlage.
Gruppenbild vorne v.l.n.r.: Carmen Sanges, Annika Dressler, Michael Hudecek, Marta Lopez und Miquel Costa Ferrando, zweite Reihe Núria Marí und Katrin Mestermann, hinten Frederik Erkens. © Kirstin Linkamp / UKW
Das Würzburger Team posiert in weißen Kitteln vor der Anlage
Team Würzburg v.l.n.r.: Annika Dressler, Katrin Mestermann, Carmen Sanges und Michael Hudecek. © Kirstin Linkamp / UKW
Katrin Mestermann steht im weißen Kittel vor dem Bioreaktor
Dr. Katrin Mestermann kontrolliert die Schläuche im Bioreaktor. © Kirstin Linkamp / UKW
Frederik Erkens steht im weißen Kittel neben der Anlage und schaut auf den Roboterarm, sein Profil spiegelt sich im schmalen Kühschrank.
Ingenieur Frederik Erkens vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT prüft die Funktionsfähigkeit des Roboterarms. © Kirstin Linkamp / UKW

Im EU-Projekt AIDPATH (AI powered, Decentralized Production for Advanced Therapies in the Hospital) entwickeln Partner aus Industrie und Forschung aus ganz Europa eine Plattform zur Herstellung sogenannter CAR-T-Zellen für die Krebstherapie. Der Prototyp, der derzeit am Uniklinikum Würzburg (UKW) aufgebaut wird, integriert mittels künstlicher Intelligenz (KI) Daten und Biomarker in den Herstellungsprozess und in die Therapie. Die CAR-T-Zellen sollen patientennah direkt in der Klinik hergestellt werden.

Würzburg. Am Lehrstuhl für Zelluläre Immuntherapie der Medizinischen Klinik II des Uniklinikums Würzburg (UKW) entsteht derzeit im Rahmen des EU-Projekts AIDPATH eine Plattform, die es in dieser Art kein zweites Mal auf der Welt gibt: eine automatisierte und intelligente Anlage für die Herstellung von CAR-T-Zellen.

CARs sind chimäre Antigenrezeptoren, die bestimmten Immunzellen, unter anderem T-Zellen, dabei helfen, Krebszellen zu erkennen, zu binden und zu zerstören. Für die Herstellung der CAR-T-Zellen müssen zunächst die weißen Blutkörperchen aus dem Blut der Patientin oder des Patienten herausgefiltert werden. Dieser Vorgang wird Leukapherese genannt. Anschließend werden die T-Zellen von den anderen weißen Blutkörperchen getrennt und zur Teilung angeregt. Damit die T-Zellen zu CAR-T-Zellen werden, wird ein künstlich hergestelltes Gen in das Erbgut eingeschleust. Die CAR-T-Zellen werden anschließend vermehrt und danach der Patientin oder dem Patienten über eine Infusion zurückgegeben.

Dieser gesamte Herstellungsprozess soll in wenigen Jahren auf 7,3 Quadratmetern direkt am Behandlungsort möglich sein, damit Krebskranke künftig viel schneller eine speziell auf ihre Bedürfnisse und individuellen Zelleigenschaften zugeschnittene Therapie erhalten. Daran arbeiten Partner aus Industrie und Forschung seit fast vier Jahren im EU-Projekt AIDPATH, das von der Europäischen Kommission im Rahmen von Horizont 2020 für fünf Jahre gefördert wird. Von Anfang an dabei ist Dr. Katrin Mestermann vom UKW.

Die Waschanlage ist das zentrale Gerät im Herstellungsmodul

„Der erste automatisierte Schritt bei der Herstellung der CAR-T-Zellen findet in einer Art Waschanlage für Zellen statt“, erklärt die Biologin. „Im so genannten Cell Washing Device werden die weißen Blutkörperchen gewaschen, in Puffer aufgenommen, die T-Zellen markiert und angereichert. Nachdem die angereicherten T-Zellen zwei bis drei Tage im Bioreaktor aktiviert wurden, kommen sie zurück in die Waschanlage und in einem neuen Puffer in den Elektroporator. Hier wird die Zellmembran durch einen kurzen Elektroschock mit Poren versehen, durch die DNA, die den CAR kodiert in die T-Zellen eingebracht wird. Danach kommen die T-Zellen wieder für einige Tage in den Bioreaktor, um das Erbgut für den CAR aufzunehmen und sich zu teilen, und anschließend ein letztes Mal in die Waschanlage, wo sie in ein spezielles Medium überführt werden, das sich zur Infusion eignet“.

Ein Roboter bildet das Herzstück des Qualitätskontrollmoduls

Nach dem Herstellungsmodul geht es weiter zum Qualitätskontrollmodul, dessen Herzstück ein Roboter ist, der die in kleine Röhrchen abgefüllten CAR-T-Zellen handhabt und sie zum Beispiel vom Durchflusszytometer, wo die Oberflächenmarker analysiert werden, in den Kühlschrank befördert, der von einem langen Roboterarm auf der einen Seite und von Menschenhand auf der anderen Seite geöffnet werden kann.

„Die Plattform ist viel größer und kann mehr, als ich dachte“, sagt Annika Dressler. Sie ist technische Assistentin und unterstützt Katrin Mestermann bei der Protokolloptimierung und Projektvalidierung. „Die Ergebnisse, auf die die großen Geräte trainiert werden, habe ich vorher im Labor im kleinen Maßstab erzeugt“, sagt Annika Dressler und gesteht: „Ich optimiere das Projekt, aber das Projekt optimiert auch mich.“ Im Moment arbeitet sie daran, den Zellverlust in der Waschanlage zu minimieren und das Restvolumen, das im Schlauch von der Waschanlage zum Bioreaktor verbleibt, nicht zu groß werden zu lassen.

Steuerungssoftware ermöglicht zentrale Verwaltung und Prozessüberwachung

Das Würzburger Team kann es kaum erwarten, die Anlage in Betrieb zu nehmen. Bisher wurden die Maschinen am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT in Aachen aufgebaut, von wo das AIDPATH Projekt koordiniert wird. „Wir haben das Engineering für die Plattform gemacht und sie ohne Zellen getestet“, berichtet Frederik Erkens vom Fraunhofer IPT. Der Ingenieur begleitet den Aufbau in Würzburg seit drei Wochen und überprüft gerade die Steuerungssoftware. Diese ermöglicht die zentrale Verwaltung und Prozessüberwachung. Denn alle Maschinen und Geräte sind über standardisierte Schnittstellen in einem so genannten Integrationsframework miteinander verbunden. Unterstützt wird die Steuerungssoftware durch einen KI-basierten digitalen Zellzwilling, der die initialen Prozessparameter vorgibt, und einen KI-Prozesscontroller, der die Prozessparameter während des Betriebs anpasst.

Gegenüber von Frederik Erkens arbeitet ein Team der spanischen Firma Aglaris Cell am Bioreaktor. Der Bioreaktor übernimmt mehrere Schritte der Zellproduktion und ist Miquel Costa Ferrando zufolge mehr als nur ein Bioreaktor. „Bei uns sind die Zellen das Produkt, nicht das, was die Zellen produzieren. Der Bioreaktor kümmert sich um die Zellen und bietet ihnen optimale Bedingungen in einer angenehmen Umgebung mit ausreichend Sauerstoff, der richtigen Temperatur, genügend Glukose und allem, was sie für ihr Wachstum brauchen“, so der Gründer und Technische Direktor von Aglaris.

Prototyp für ganz Europa – um Produktionsdaten zu harmonisieren

Die Zellen werden während des gesamten Herstellungsprozesses überwacht. „Das heißt, wir müssen sie nicht stören, um Proben zu nehmen und den pH-Wert oder den Sauerstoffgehalt zu bestimmen. Ein KI-Algorithmus sagt uns, wann die gewünschte Zellzahl erreicht ist und der richtige Zeitpunkt für die Ernte gekommen ist“, erklärt Dr. Carmen Sanges. Ebenso wichtig wie die Automatisierung ist für sie die Digitalisierung. Die Plattform kann zum Beispiel in die klinische Datenbank integriert werden, sodass Patientendaten mit Produktionsdaten verknüpft werden. Bei der Einrichtung der Datenbank arbeitet das UKW eng mit dem niederländischen Softwareunternehmen ORTEC und dem europäischen T2EVOLVE-Konsortium zusammen, welches zum Ziel hat, die Entwicklung und den Zugang zur CAR-T-Zelltherapie zu beschleunigen. Als wissenschaftliche Projektleiterin der EU-Projekte des Lehrstuhls ist Carmen Sanges auch für AIDPATH verantwortlich und kümmert sich um die klinische Anwendbarkeit, den Austausch mit Medizinern, Wissenschaftlern und Patienten, und die regulatorische Strategie. Im Bereich Business Development arbeitet sie eng mit dem niederländischen Partner Panaxea zusammen. Denn die Idee ist, eines Tages mehrere solcher Plattformen in Europa zu haben, damit Produktionsdaten harmonisiert und ausgetauscht werden können, um sowohl die Forschung als auch die Behandlung voranzutreiben und zu stärken.

Auch Prof. Dr. Michael Hudecek, Inhaber des Lehrstuhls für Zelluläre Immunologie, verfolgt den Aufbau der Anlage mit großer Spannung und Vorfreude: „Ich bin unglaublich stolz, dass es uns im Team gelungen ist, diese Anlage zu entwerfen und aufzubauen. Jetzt können wir die Plattform mit Daten füttern und herausfinden, wo uns künstliche Intelligenz (KI) helfen kann. Welche Fragen kann KI beantworten? Welche Daten brauchen wir dafür? Und wenn wir alle Schritte fein aufeinander abgestimmt haben, können wir einen Zwilling dieser Herstellungsplattform im GMP-Bereich, also dem Höchstreinlabor aufbauen und dort CAR-T-Zellprodukte für die Therapie herstellen.“ Denn der Name ist Programm: AIDPATH steht für AI powered, Decentralized Production for Advanced Therapies in the Hospital - KI-gestützte, dezentrale Produktion für moderne Therapien im Krankenhaus.

Partner im AIDPATH-Konsortium 

•    AglarisCell SL, Tres Cantos
•    Foundation for Research and Technology - Hellas, (FORTH), Patras
•    Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT, Aachen
•    Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie IZI, Leipzig
•    Fundacio Clinic per a la recerca Biomedica, Barcelona
•    IRIS Technology Solutions, Sociedad Limitada, Madrid
•    Ortec Optimization Technology B.V., Zoetermeer
•    Panaxea BV, Amsterdam
•    Red Alert Labs, Maisons-Alfort
•    Sartorius CellGenix GmbH, Freiburg
•    SZTAKI Institute for Computer Science and Control, Budapest
•    Universitätsklinikum Würzburg, Würzburg
•    University College London, London

Hier geht es zur Projektseite des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnologie IPT. Weitere Informationen liefert die Projektwebseite www.aidpath-project.eu 

Text: Kirstin Linkamp / UKW

Alle beim Aufbau beteiligten tragen einen weißen Kittel und posieren vor der Anlage.
Gruppenbild vorne v.l.n.r.: Carmen Sanges, Annika Dressler, Michael Hudecek, Marta Lopez und Miquel Costa Ferrando, zweite Reihe Núria Marí und Katrin Mestermann, hinten Frederik Erkens. © Kirstin Linkamp / UKW
Das Würzburger Team posiert in weißen Kitteln vor der Anlage
Team Würzburg v.l.n.r.: Annika Dressler, Katrin Mestermann, Carmen Sanges und Michael Hudecek. © Kirstin Linkamp / UKW
Katrin Mestermann steht im weißen Kittel vor dem Bioreaktor
Dr. Katrin Mestermann kontrolliert die Schläuche im Bioreaktor. © Kirstin Linkamp / UKW
Frederik Erkens steht im weißen Kittel neben der Anlage und schaut auf den Roboterarm, sein Profil spiegelt sich im schmalen Kühschrank.
Ingenieur Frederik Erkens vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT prüft die Funktionsfähigkeit des Roboterarms. © Kirstin Linkamp / UKW

Mit besserem Geschmack durch die Tumortherapie

MAßGESCHNEIDERTE ERNÄHRUNGSEMPFEHLUNGEN FÜR KREBSPATIENTEN MIT GESCHMACKSSTÖRUNGEN

Bei Krebspatientinnen und Krebspatienten treten während einer Tumortherapie häufig Geschmacksstörungen auf, die den Ernährungszustand beeinträchtigen und im schlimmsten Fall zum Abbruch lebensverlängernder Therapien führen. Unter der Leitung von Prof. Dr. Alexander Hann und Dr. Anna Fleischer vom Uniklinikum Würzburg (UKW) wollen die sechs Universitätsklinika in Bayern mit maßgeschneiderten Ernährungsinterventionen die Geschmackswahrnehmung in der Onkologie optimieren. Das multidisziplinäre Team aus Medizin, Psychoonkologie, Ernährungswissenschaft, Informatik und Social Media entwickelt und evaluiert ein auf künstlicher Intelligenz (KI) basierendes Portal namens Gustabor, das 500.000 Rezepte sowie zahlreiche Lebensmittelinformationen bündelt und Empfehlungen entsprechend dem Geschmacksprofil des Nutzers ausspricht. Das Projekt wird vom Bayerischen Zentrum für Krebsforschung (BZKF) im Rahmen der Ausschreibung zur tertiären Prävention mit 467.480 € über zwei Jahre ab Januar 2025 gefördert.

DAs Bild zeigt das Würzburger Team in Person und auf dem Monitor hinter den Personen die zwei Projektpartnerinnen aus Regensburg und München.
Partnerinnen und Partner im Gustabor-Projekt, hinten links auf dem Monitor Dr. Sophie Scholsser-Hupf (UKR) und rechts Dr. Nicole Erickson (LMU), vorne das Team am UKW v.l.n.r. Constanze Wolz, Dr. Anna Fleischer, Prof. Dr. Alexander Hann, Philipp Sodmann. © UKW
Das mit KI erstellte Titelbild von Gustabor, Aufschrift: Begleiten Sie uns auf einer spannenden Reise durch Geschmack, Ernährung und Medizin
Die Plattform Gustabor gibt passend zum Geschmacksprofil personalisierte Ernährungsempfehlungen, die helfen sollen, spezifische Geschmacksstörungen, die während der Tumortherapie auftreten, zu lindern. Die Bilder für die Webseite hat der Assistenzarzt Philipp Sodmann mit KI von Midjourney erstellt. © Philipp Sodmann / UKW

Würzburg. Erst kürzlich zeigte eine französische Studie, dass 98 Prozent aller Krebspatientinnen und Krebspatienten durch ihre Chemotherapie unter Geschmacksveränderungen leiden. Obwohl Geschmacksveränderungen bei Chemo- und Immuntherapien mit einer Vielzahl negativer Folgen wie Mangelernährung und verminderter Therapietreue verbunden sind, werden sie immer noch unterschätzt. Das muss sich ändern, dachte sich Dr. Anna Fleischer von der Abteilung für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Würzburg (UKW), als ein Patient mit rezidiviertem Multiplem Myelom bekannte: „Hätte ich vorher gewusst, dass ich unter der Antikörpertherapie nichts mehr schmecken kann, hätte ich sie abgelehnt, obwohl sie meine letzte Chance war.“ Für den Patienten war der Geschmack wichtiger als die Lebensverlängerung.

Patientinnen und Patienten haben unterschiedliche Geschmacksstörungen

Weitere Patientinnen und Patienten bestätigten die immense Belastung und Einschränkung der Lebensqualität durch Geschmacksstörungen. Anna Fleischer hat deshalb zunächst gemeinsam mit dem Oberarzt Prof. Dr. Leo Rasche und der Doktorandin Magdalena Roll die Geschmacksstörungen unter der Antikörpertherapie mit Talquetamab systematisch untersucht. Das Ergebnis: Alle Patientinnen und Patienten nehmen den Geschmack unterschiedlich wahr. Bei manchen schmeckt alles bitter oder metallisch, andere können Süßes oder Salziges nicht mehr schmecken. So entstand die Idee für Gustabor - eine Plattform, die Geschmacksprofile erstellt und personalisierte Ernährungsempfehlungen gibt, die helfen sollen, spezifische Geschmacksstörungen, die während der Tumortherapie auftreten, zu lindern. 

Sechs bayerische Uniklinika und Patientenvertretungen beteiligt

Für das Projekt holte Anna Fleischer zunächst den Würzburger Gastroenterologen und KI-Experten Prof. Dr. Alexander Hann mit ins Boot sowie die Ernährungsberaterin Constanze Wolz vom UKW, die Ernährungswissenschaftlerin Dr. Nicole Erickson vom LMU Klinikum und weitere Expertinnen und Experten aus dem Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Universitätsklinikum Regensburg. Gemeinsam mit Patientenvertretungen wollen die drei Unikliniken im ersten Projektjahr sämtliche bereits bekannte Maßnahmen und Tipps bei Geschmacksstörungen aus rund 200 nicht-pharmakologischen Studien herausfiltern und die Internetplattform Gustabor mit 500.000 Rezepten und lebensmittelspezifischen Informationen sowie entsprechenden Such- und Filterfunktionen aufbauen.

Im zweiten Projektjahr werden die anderen drei bayerischen Uniklinika in Augsburg und Erlangen sowie das TUM Universitätsklinikum rechts der Isar involviert. Schließlich sollen an allen sechs bayerischen Uniklinik-Standorten in einer randomisierten Studie die Maßnahmen bei Patientinnen und Patienten entsprechend ihres zuvor erstellen Geschmacks- und Ernährungsprofils angewendet und evaluiert werden. 

BZKF fördert Gustabor mit 467.480 Euro 

Das Projekt wird ab Januar 2025 zwei Jahre lang vom Bayerischen Zentrum für Krebsforschung (BZKF) im Rahmen der Ausschreibung zur sogenannten tertiären Prävention mit 467.480 Euro gefördert. Tertiäre Prävention bezeichnet Maßnahmen, die darauf abzielen, die Folgen einer bereits bestehenden Krankheit zu minimieren, Komplikationen zu verhindern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. 

Anna Fleischer hat bereits umfassende Literaturrecherchen und Befragungen betrieben sowie einen Patientenratgeber geschrieben. Was wird zum Beispiel Patientinnen und Patienten mit metallischem Geschmack empfohlen? „Ihnen kann es helfen, vorwiegend kalte Speisen und Limonade zu sich zu nehmen sowie Besteck aus Kunststoff statt aus Metall zu verwenden.“ Und wenn jemand nicht mehr süß schmecken kann? „Dann könnte Gustabor der Person Rezepte vorschlagen, die deftig lecker sind und nicht zwingend süß schmecken müssen, oder bei denen die Süße ganz stark hochdosiert werden kann“, schildert die Medizinerin. 

Kombination von Geschmacksprofil, 500.000 Rezepten, Zutatenfakten und Wirkungsweisen sowie fortschrittlichen Algorithmen 

„Unser Ziel ist es, dass Gustabor mittels verschiedener Algorithmen auf Basis des Geschmacksprofils einen Katalog mit maßgeschneiderten Ernährungsvorschlägen generiert, die der Patientin oder dem Patienten wirklich schmecken und helfen“, erklärt Alexander Hann. Die KI dahinter baut der Mediziner gemeinsam mit Informatikerinnen und Informatikern auf. Neben dem objektiv erstellten Geschmacksproblem werden im anonymisierten Profil Punkte wie Alter, Geschlecht, Gewicht, Tumorart, Behandlung, Ernährungsvorlieben, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und -abneigungen berücksichtigt. Ergänzend zu den 500.000 Rezepten, die eine KI mit Wort und Bild überarbeitet hat, fließen Tabellen und Skalen ein, die Auskunft darüber geben, welche Stoffe in welchen Lebensmitteln enthalten sind und wie sie in verschiedenen Zuständen schmecken. Eine frische Aprikose schmeckt zum Beispiel anders als gepresst oder gekocht. 

Appetit wird durch Jazz und orange gefördert, durch Rap und Schwarzlicht gehemmt

Manche Maßnahmen seien auch gar nicht rezeptspezifisch, so Anna Fleischer. Der Geschmack hängt oft auch vom Ambiente ab. So hat es sich bei Krebspatientinnen und Krebspatienten bewährt, während des Essens Ablenkung zu suchen und mit der Familie oder mit Freunden zu essen statt alleine. Erhebungen ergaben, dass Menschen bei Jazzmusik tendenziell mehr und bei Rapmusik weniger essen. Schwarze und violette Farbtöne werden beim Essen mit Schimmel assoziiert und lösen Ekel aus, während orange Farbtöne an frisches Obst erinnern und den Appetit anregen.

Fett als Geschmacksverstärker, Fleisch mit Süßem und zwischendurch ein Kaugummi

„Es ist nicht so, dass es noch keine Ernährungsempfehlungen gibt, aber diese erfordern ein Ausprobieren. Mal hilft das eine, mal das andere. Die Wirkung ist ganz individuell. Und genau das wollen wir identifizieren“, sagt Alexander Hann. Inspiriert hat ihn eine aktuelle Studie aus Toronto, die für Gustabor ein guter Vorgeschmack sein könnte. Eine Informationsbroschüre mit potenziell nützlichen Strategien half krebskranken Kindern, mit ihren spezifischen Geschmacksveränderungen umzugehen. Wer es zum Beispiel mild mag, sollte neutrale Speisen wie Reis, Nudeln, Kartoffeln, Huhn, Ei oder Pudding bevorzugen und die Lebensmittel kochen, das reduziert den Eigengeschmack. Wer es pikant mag, sollte viel Salz, Basilikum, Oregano, Zimt oder Ingwer verwenden und die Speisen mit kräftigen Saucen, Zitronensaft oder Essig verfeinern. Auch Fett dient als Geschmacksverstärker. Speisen mit starkem Eigengeruch sollten gemieden werden, und Fleischgerichte werden oft durch süße Beigaben wie Preiselbeeren, Kompott, Gelee oder Honigmarinaden schmackhafter. Zwischendurch können das Lutschen von Pfefferminzbonbons und das Kauen von zuckerfreiem Kaugummi, häufiges Zähneputzen und Mundspülungen unangenehme Gerüche reduzieren.

Beteiligte Partnerinnen und Partner im Projekt Gustabor:

UKW: Alexander Hann (Leitung), Anna Fleischer (Stellvertretende Leitung), Philipp Sodmann, Constanze Wolz, Leo Rasche, Imad Maatouk, Hermann Einsele, Patientenvertretungen
 
LMU: Nicole Erickson, Michael von Bergwelt, Volker Heinemann, Patientenvertretungen
 
UKR: Arne Kandulski, Sophie Schlosser-Hupf, Martina Müller-Schilling, Patientenvertretungen
 
UKER: Norbert Meidenbauer, Andreas Mackensen, Patientenvertretungen
 
UKA: Tim Pfeiffer, Martin Trepel, Patientenvertretungen
 
TUM: Sylvie Lorenzen, Alexander Nieto, Florian Bassermann, Patientenvertretungen

 

Text: Kirstin Linkamp / UKW
 

DAs Bild zeigt das Würzburger Team in Person und auf dem Monitor hinter den Personen die zwei Projektpartnerinnen aus Regensburg und München.
Partnerinnen und Partner im Gustabor-Projekt, hinten links auf dem Monitor Dr. Sophie Scholsser-Hupf (UKR) und rechts Dr. Nicole Erickson (LMU), vorne das Team am UKW v.l.n.r. Constanze Wolz, Dr. Anna Fleischer, Prof. Dr. Alexander Hann, Philipp Sodmann. © UKW
Das mit KI erstellte Titelbild von Gustabor, Aufschrift: Begleiten Sie uns auf einer spannenden Reise durch Geschmack, Ernährung und Medizin
Die Plattform Gustabor gibt passend zum Geschmacksprofil personalisierte Ernährungsempfehlungen, die helfen sollen, spezifische Geschmacksstörungen, die während der Tumortherapie auftreten, zu lindern. Die Bilder für die Webseite hat der Assistenzarzt Philipp Sodmann mit KI von Midjourney erstellt. © Philipp Sodmann / UKW

Prämiertes pharmazeutisches Konsil

WIE GENE DIE WIRKSAMKEIT VON MEDIKAMENTEN BEEINFLUSSEN

Die Engel Apotheke aus Ochsenfurt und die MainArzt GmbH &Co.KG führten gemeinsam mit dem Zentrallabor und der Experimentellen Biomedizin II des Uniklinikums Würzburg (UKW) eine Maßnahme zur Qualitätssicherung der Clopidogrel-Therapie durch, indem sie den Genotyp der Patientinnen und Patienten untersuchten. Für dieses interdisziplinäre Medikationsmanagement, das als Modell für zukünftige Projekte dienen kann, wurde das Team beim 360° Winterthur Symposium der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) mit dem Anna-Laven-Preis ausgezeichnet.

Die Collage zeigt vier Porträts und drei Logos der Projektbeteiligten.
Barsom Aktas und Katrin Zehnter (oben) von der Engel Apotheke haben gemeinsam mit der MainArzt GmbH sowie Elke Butt (unten links) und Sabine Herterich (unten rechts) vom Uniklinikum Würzburg in einem Pilotprojekt eines pharmazeutischen Konsils die Pharmakogenetik der Clopidogrel-Therapie untersucht. © Engel Apotheke / MainArzt GmbH/ UKW
eine Hand mit blauem Handschuh hält ein kleines Reagenzglas in das Blut pipettiert wird.
Die Einbeziehung des Patientengenotyps in die Arzneimitteltherapie ist ein vielversprechender Ansatz, um eine optimale Wirkung von bestimmten Medikamenten zu erreichen. © Anna Wenzl / UKW

Würzburg. Dosierungsfehler, unregelmäßige oder falsche Anwendung, Wechsel- und Nebenwirkungen, Mehrfach- und Doppelverordnungen, Kontraindikationen sowie Alter, Geschlecht, Organfunktionsstörungen und genetische Faktoren gehören zu den arzneimittelbezogenen Problemen, die das Erreichen von Therapiezielen verhindern können. Arzneimittelbezogene Probleme, kurz ABP, werden für 3 bis 9 Prozent aller Krankenhauseinweisungen verantwortlich gemacht. Etwa jede dritte Krankenhauseinweisung, zahlreiche Todesfälle sowie erhöhte Gesundheitskosten könnten jedoch vermieden werden, zum Beispiel durch ein interdisziplinäres Medikationsmanagement. Das bedeutet, dass Patientinnen und Patienten gemeinsam von ihrer Apotheke und den behandelnden Ärztinnen und Ärzten betreut werden. 

Anna-Laven-Preis für interdisziplinäres Medikationsmanagement

Ein multidisziplinäres Team der Engel Apotheke und der MainArzt GmbH in Ochsenfurt sowie des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) ist für eine beispielhafte Maßnahme zur Qualitätssicherung der Arzneimitteltherapie im Rahmen des 360° Winterthur Symposiums der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) mit dem Anna-Laven-Preis der IP-HEALTH Gesellschaft für interprofessionelle Gesundheitsversorgung e.V. ausgezeichnet worden.

Dr. Barsom Aktas und Katrin Zehnter von der Engel Apotheke, Prof. Dr. Elke Butt vom Institut für Experimentelle Biomedizin II, Dr. Sabine Herterich aus dem Zentrallabor des Universitätsklinikums sowie die MainArzt GmbH untersuchten in dem Projekt die Pharmakogenetik der Clopidogrel-Therapie. Dieses Pilotprojekt eines pharmazeutischen Konsils wurde in der Medizinischen Monatsschrift für Pharmazeuten (MMP) veröffentlicht.

Berücksichtigung des Patientengenotyps in der Clopidogrel-Therapie

Clopidogrel wird Patientinnen und Patienten verschrieben, bei denen ein erhöhtes Risiko für thrombotische Ereignisse besteht. Der so genannte Thrombozytenaggregationshemmer soll die Bildung von Blutgerinnseln in den Arterien verhindern, die zu schwerwiegenden kardiovaskulären Ereignissen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall führen können. Als Prodrug entfaltet Clopidogrel seine Wirkung erst nach der Metabolisierung in der Leber, hauptsächlich über Cytochrom P450 2C19 (CYP2C19). Genetische Varianten, so genannte Polymorphismen, können jedoch die Aktivität des Enzyms und damit die Fähigkeit zur Aktivierung von Clopidogrel beeinflussen. Solche Varianten kommen bei 20 bis 26 Prozent der amerikanischen und europäischen Bevölkerung vor.

Ist eine Person homozygot für eine inaktive Variante von CYP2C19, wenn also Vater und Mutter die inaktive Variante vererbt haben, kann Clopidogrel nicht in die aktive Form umgewandelt werden und bleibt unwirksam. Diese Person, benötigt ein alternatives Medikament für die Thrombose-Prophylaxe.

Es gibt auch Genvarianten, zum Beispiel das CYP2C19*17-Allel, die eine beschleunigte Aktivität des Enzyms zur Folge haben. Bei homozygoten Trägern dieser Variante sollte die Dosis von Clopidopgrel gegebenenfalls reduziert werden. 

„Um eine optimale Wirkung von Clopidogrel, aber auch von anderen Medikamenten wie Antidepressiva, Betablockern oder Opioiden zu erreichen, ist die Einbeziehung des Patientengenotyps in die Arzneimitteltherapie ein vielversprechender Ansatz, der die öffentlichen Apotheken als unverzichtbare Partner in der personalisierten Medizin positioniert“, sagt Prof. Dr. Elke Butt vom Institut für Experimentelle Biomedizin II des UKW, das vorwiegend Herz-Kreislauferkrankungen erforscht. 

Das interdisziplinäre Team aus Unterfranken untersuchte in seinem Projekt insgesamt 32 Patientinnen und Patienten, die Clopidogrel einnahmen, auf Varianten im CYP2C19-Gen, die die katalytische Aktivität des Enzyms beeinflussen.

Bei vier der 32 untersuchten Personen wurde ein Wechsel von Clopidogrel auf Ticagrelor oder Prasugrel empfohlen

Zunächst stellte der Apotheker alle Informationen für den Hausarzt zusammen. Nach umfassender Aufklärung und schriftlicher Einwilligung wurde den Patientinnen und Patienten in der Hausarztpraxis Blut abgenommen, das die Apotheke pseudonymisiert an das Zentrallabor des UKW zur Genotypisierung schickte. 

Bei vier Personen wurde das Allel CYP2C19*2 in heterozygoter Form nachgewiesen. Das Allel *2 ist die häufigste Variante in der europäischen Bevölkerung, die zu einem Funktionsverlust des Enzyms führt. Es wird für eine verminderte Wirksamkeit von sechs bis zwölf Prozent aller Clopidogrel-Therapien verantwortlich gemacht. Im pharmazeutischen Konsil empfahl der Apotheker dem behandelnden Arzt, diese vier Patienten auf Ticagrelor oder Prasugrel umzustellen. Diese neueren Medikamente müssen nicht mehr enzymatisch aktiviert werden.

Das CYP2C19*17-Allel, das mit einer gesteigerten Enzymaktivität und damit einer erhöhten Blutungsneigung unter Clopidogrel-Behandlung assoziiert ist, wurde bei zehn Personen heterozygot und bei zwei Personen homozygot nachgewiesen. Bei den homozygoten Trägern des CYP2C19*17-Allels empfahl der Apotheker dem Hausarzt eine regelmäßige Kontrolle des Gerinnungsstatus und eine Therapieumstellung bei erhöhter Blutungsneigung, beispielsweise bei Zahnfleisch- oder Nasenbluten oder Hämatomen ohne Trauma. 

Pharmazeutisches Konsil kann arzneimittelbezogene Probleme verringern

Das Team betont in seiner Publikation die Bedeutung einer individuellen Nutzen-Risiko-Abwägung, insbesondere unter Berücksichtigung genetischer Faktoren, um die Wirksamkeit und Sicherheit einer Therapie zu gewährleisten. Dennoch wird die CYP2C19-Genotypisierung derzeit nicht routinemäßig durchgeführt, da sie nicht im Leistungskatalog der Krankenkassen enthalten ist. 

„Wir plädieren sehr für ein gemeinsames Vorgehen von Ärztinnen und Ärzten und Apothekerinnen und Apothekern. Gemeinsam können wir umfassendes Fachwissen aus den großen Bereichen Pharmazie und Medizin zum Wohle unserer Patientinnen und Patienten und zur Entlastung des Gesundheitssystems bündeln“, kommentiert Barsom Aktas. „Für diese Zusammenarbeit steht der Begriff Pharmakovigilanz. Er fasst die Idee des Medikationsmanagements, das arzneimittelbezogene Probleme reduzieren kann, kompakt zusammen.“

Text: Kirstin Linkamp / UKW 
 

Was T-Zellen im Tumor müde macht

DETAILLIERTE ANALYSE IM JOURNAL BLOOD VON EXTRAMEDULLÄREN LÄSIONEN BEIM MULTIPLEN MYELOM UND NEUE THERAPIEANSÄTZE

Die extramedulläre Erkrankung (EMD) ist ein Hochrisikofaktor beim Multiplen Myelom. Angela Riedel und Leo Rasche vom Uniklinikum Würzburg haben die Mikroumgebung dieser Myelomzellen außerhalb des Knochenmarks erstmals detailliert analysiert und ihre bahnbrechenden Erkenntnisse in der Fachzeitschrift Blood publiziert. Die Studie zeigt, warum EMD so schlecht auf gängige Immuntherapien anspricht und welche neuen therapeutischen Möglichkeiten in Frage kommen, um auch diese Läsionen erfolgreich bekämpfen zu können.

 

Das Titelbild der Ausgabe von blood zeigt eine mikroskopische Aufnahme einer Myelomläsion.
Mit einem Immunfluoreszenzbild einer kutanen extra-medullären Myelomläsion haben es Angela Riedel und Leo Rasche und ihre Arbeitsgruppen auf das Cover der Fachzeitschrift Blood der American geschafft. Die grünen Bereiche zeigen Zellen, die das Protein CD3e tragen, was typischerweise auf T-Zellen hinweist. Die roten Bereiche markieren Zellen mit CD138, ein Zeichen für Plasmazellen, die bei Myelomen eine wichtige Rolle spielen. Die blauen Bereiche stellen Kollagen I dar, ein Strukturprotein, das in der Haut vorkommt. © Mara John und Angela Riedel / American Society of Hematology
Copy Number Variations sind in verschiedenen Farben dargestellt.
Hier wurde die Anzahl der vorhergesagten Copy Number Variations (CNVs) in verschiedenen Bereichen des Gewebes, so genannten spots, im Rahmen der räumlichen Transkriptomatik analysiert. CNVs sind genetische Veränderungen, bei denen bestimmte Abschnitte der DNA entweder vervielfältigt oder gelöscht sind. Dies führt dazu, dass sich die Anzahl der Kopien bestimmter Gene oder DNA-Abschnitte zwischen verschiedenen Proben unterscheidet. © Moutaz Helal
Gruppenbild draußen auf der Terrasse vor dem UKW, Angela Riedel und Leo Rasche sitzen in der Mitte, außen stehen Mara John und Moutez Helal.
Die beiden Erstautoren Mara John (links) und Moutaz Helal (rechts) mit den beiden Letztautoren Angela Riedel und Leo Rasche. © UKW

Würzburg. Schon die Diagnose Multiples Myelom allein ist ein schwerer Schlag für die Betroffenen. Denn die Blutkrebserkrankung, bei der verschiedene bösartige Tumorherde im Knochenmark auftreten, ist bis heute nicht heilbar. Dank zahlreicher Therapiemöglichkeiten kann das Fortschreiten der Erkrankung jedoch über einen längeren Zeitraum verhindert und die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten verbessert werden. Wenn sich die Tumorzellen jedoch außerhalb des Knochenmarks ausbreiten und in andere Gewebe und Organe eindringen, erschwert dies die Behandlung. Denn viele Erkrankte mit diesen sogenannten extramedullären Läsionen (kurz EMD für extramedullary disease) sprechen auch auf moderne Immuntherapien mit CAR-T-Zellen oder bispezifischen Antikörpern nicht mehr an. 

Warum ist das so? Dr. Angela Riedel und Prof. Dr. Leo Rasche vom Uniklinikum Würzburg (UKW) haben sich mit ihren Juniorgruppen am Mildred-Scheel-Nachwuchszentrum (MSNZ) die Tumorzellen außerhalb des Knochenmarks genauer angeschaut und mit Hilfe der räumlichen und Einzelzell-Transkriptomik erstmals die detaillierte Mikroumgebung von 14 EMD-Läsionen untersucht. Ihre bahnbrechenden Ergebnisse wurden jetzt in der Fachzeitschrift Blood der American Society of Hematology als Titelstory veröffentlicht. Das Cover ziert ein Immunfluoreszenzbild einer kutanen EMD, bei der T-Zellen mit dem Protein CD3e grün, Plasmazellen mit CD138 rot und das Kollagen der Haut I blau markiert sind. 

Immunzellen dringen in Tumoren ein, sind aber oft in ihrer Funktion gestört 

„Die Infiltration von Immun- und Stromazellen war sowohl innerhalb als auch zwischen den Patientinnen und Patienten sehr unterschiedlich“, schildert Angela Riedel. Das bedeutet, dass der Tumor und das umliegende Gewebe bei jeder Patientin und jedem Patienten anders auf das Immunsystem reagieren, was zeigt, wie komplex und individuell die Krankheit verläuft. Die Biomedizinerin nennt ein Beispiel: „Wir konnten beobachten, dass T-Zellen zwar in die EMD-Läsion einwandern können, aber in einen erschöpften Zustand geraten, sobald sie in die Nähe der Myelomzellen kommen.“ Die ermüdeten weißen Blutkörperchen des Immunsystems verlieren also ihre Fähigkeit, die Krebszellen zu bekämpfen. Aktive T-Zellen fanden sich meist außerhalb der Läsion in tumorfreiem Gewebe zusammen mit spezifischen Makrophagen-Subtypen, die ebenfalls eine Rolle in der Immunantwort spielen. 

Bei Erkrankten, die gut auf eine Therapie mit bispezifischen T-Zell-Antikörpern ansprachen - das sind Antikörper, die mit einem Arm an das Oberflächenmerkmal der Immunzelle und mit dem anderen Arm an das der Tumorzelle binden, um die Immunzellen zur Tumorzelle zu leiten und diese zu zerstören - war der Unterschied zwischen erschöpften und aktiven T-Zellen nicht mehr feststellbar. 

Multizelluläres Ecosystem

Die Forschenden vermuten zudem eine genomische Instabilität innerhalb der Läsion, da die Myelomzellen Variationen in der Kopienzahl der Chromosomen sowie neue Subklone in bestimmten Tumorbereichen aufwiesen. Die Tumorzellen wiesen also ein Mosaik genetischer Vielfalt auf, das sie schwer behandelbar machen könnte.

„Bislang ging man davon aus, dass EMD nur aus Plasmazellen besteht, doch wir zeigen, dass es sich dabei um eine multizelluläre Umgebung handelt“, resümiert Angela Riedel.

Einsatz von Checkpoint-Inhibitoren als therapeutische Strategie gegen EMD

Leo Rasche zufolge sind diese Ergebnisse von großer klinischer Bedeutung, da das Vorhandensein von ermüdeten T-Zellen bei Fällen beobachtet wurde, die nicht auf bispezifische T-Zell-adressierende Antikörper ansprachen. „Die von uns identifizierten erschöpften T-Zellen exprimierten die Oberflächenmoleküle TIM3 und PD-1, was prinzipiell für eine immunologische Checkpoint-Therapie spricht, die auf diese Moleküle abzielen. Obwohl Checkpoint-Inhibitoren beim Multiplen Myelom bisher nicht erfolgreich waren, könnten sie bei Erkrankungen mit EMD-Läsionen erneut getestet werden, möglicherweise auch in Kombination mit bispezifischen Antikörpern“, rät Leo Rasche. 

Hämatologisch-onkologische Mischformen

Der Oberarzt weist auf einen weiteren Aspekt der Studie hin, nämlich dass das Multiple Myelom im Grunde ein Hybrid zwischen hämatologischen und soliden Krebserkrankungen ist. „Die Ähnlichkeiten zur soliden Onkologie hätten wir ohne unsere neue Methode, die Spatial Transcriptomics, nicht gefunden“, sagt Rasche. Spatial Transcriptomics ermöglicht es, die Genaktivität in einem Gewebeschnitt zu analysieren und diese Information mit der räumlichen Position der Zellen zu verknüpfen. So lässt sich nachvollziehen, welche Gene in welchen Bereichen des Gewebes an- oder abgeschaltet sind und wie diese Gene das Verhalten der Zellen in ihrer Umgebung beeinflussen. Solche Einblicke in die Tumorbiologie dieser Variante des Myeloms sind besonders wichtig. Immerhin nimmt die Häufigkeit von EMD beim Multiplen Myelom zu. „Die Läsionen finden sich inzwischen bei jedem dritten Patienten im Rezidiv“, bemerkt Rasche.

Wie geht es weiter? In den nächsten Schritten will das Team Knochenmarkbiopsien auf räumlicher Ebene analysieren, um zu verstehen, was genau der Unterschied zwischen dem Multiplen Myelom im Knochenmark und den extramedullären Läsionen ist. Die große Frage ist, ob die Ergebnisse von den extramedullären Läsionen auf das Knochenmark übertragbar sind.

Kooperationen und Förderungen

Die Publikation ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen einer deutschen und tschechischen Gruppe, zu der das Mildred-Scheel-Nachwuchszentrum (MSNZ) Würzburg, die Medizinische Klinik und Poliklinik II des UKW, die Pathologie der Universität Würzburg, das Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI), das Münchner Leukämielabor (MLL) und die Abteilung für Hämatoonkologie der Universität von Ostrava gehören.

Das Forschungsprojekt wurde von der Deutschen Krebshilfe über das MSNZ-Programm, von der Else Kröner-Fresenius-Stiftung (EKFS) über das Forschungskolleg TWINSIGHT, vom Interdisziplinären Zentrum für Klinische Forschung (IZKF) über das Projekt Z-12 und vom tschechischen Gesundheitsforschungsrat gefördert.

Publikation: 

John M, Helal M, Duell J, Mattavelli G, Stanojkovska E, Afrin N, Leipold AM, Steinhardt MJ, Zhou X, Žihala D, Anilkumar Sithara A, Mersi J, Waldschmidt JM, Riedhammer C, Kadel SK, Truger M, Werner RA, Haferlach C, Einsele H, Kretzschmar K, Jelínek T, Rosenwald A, Kortüm KM, Riedel A, Rasche L. Spatial transcriptomics reveals profound subclonal heterogeneity and T-cell dysfunction in extramedullary myeloma. Blood. 2024 Nov 14;144(20):2121-2135. doi: 10.1182/blood.2024024590. PMID: 39172759.

Text: Kirstin Linkamp / UKW
 

„Entscheidungsrauschen“ ist kein Messfehler

ABNAHME INKONSISTENTER ENTSCHEIDUNGEN VOM JUGEND- ZUM ERWACHSENENALTER VERMITTELT ZUNAHME KOGNITIVER KOMPETENZ

Die Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie“ des Universitätsklinikums Würzburg stellt in der Fachzeitschrift PLOS Biology erstmals die Entwicklung verrauschter Entscheidungen der Entwicklung spezifischer kognitiver Prozesse gegenüber. Es zeigte sich, dass eine altersabhängige Zunahme spezifischer und komplexer kognitiver Prozesse nicht nur mit einer Abnahme „verrauschter“ inkonsistenter Entscheidungen einhergeht, sondern sogar von dieser Abnahme abhängt.

 

Lorenz Deserno und Vanessa Scholz vor alten Torbogen des Zentrums für Psychische Gesundheit.
Dr. Vanessa Scholz und Prof. Dr. Lorenz Deserno, Leiter der Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie" an der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Würzburg (UKW), zeigen in ihrer neuesten Studie, dass die Zunahme der Komplexität von Prozessen und die Abnahme des Entscheidungsrauschens proportional zusammenhängen. © Kirstin Linkamp / UKW
Kinder und Jugendliche treffen oft impulsive und inkonsistente Entscheidungen, zum Beispiel bei der Auswahl einer Eissorte. Erwachsene hingegen entscheiden überlegter. Die Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie“ des Universitätsklinikums Würzburg fand heraus, dass die Fähigkeit zu überlegtem Entscheiden im Jugendalter zunimmt und impulsive Entscheidungen abnehmen. Diese Entwicklung könnte wichtig für komplexere kognitive Prozesse sein, wie in ihrer Studie in PLOS Biology beschrieben. © UKW

Würzburg. Wer kennt sie nicht, die Qual der Wahl, zum Beispiel in der Eisdiele. Nehme ich meine Lieblingssorte oder probiere ich etwas Neues, vielleicht sogar etwas ganz Exotisches. Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist dieses so genannte Entscheidungsrauschen besonders groß. Bei einer Fehlentscheidung oder einem „Igitt!“ reagieren die Eltern meist mit „Das war doch klar. Das hätte ich dir gleich sagen können.“ Eben weil Erwachsene in der Regel überlegter und vorausschauender entscheiden.

Altersabhängige Abnahme inkonsistenter Entscheidungen könnte Voraussetzung für Entwicklung komplexer kognitiver Prozesse sein

Prof. Dr. Lorenz Deserno, Leiter der Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie" an der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Würzburg (UKW), bezeichnet diese verrauschten Entscheidungen auch als explorative oder inkonsistente Entscheidungen. Sie nehmen im Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter kontinuierlich ab, während spezifische und komplexe kognitive Prozesse zunehmen. Neueste Forschungsergebnisse seiner Arbeitsgruppe, die jetzt in der Fachzeitschrift PLOS Biology veröffentlicht wurden, legen sogar nahe, dass die altersabhängige Abnahme inkonsistenter Entscheidungen eine Voraussetzung für die Entwicklung komplexer kognitiver Prozesse sein könnte. 

„Bisherige Studien haben inkonsistente Entscheidungen oft ignoriert und als Messfehler abgetan. Wir haben uns aber die Rauschkomponenten, die sich aus fast allen Verhaltensexperimenten extrahieren lassen, genauer angeschaut“, berichtet Lorenz Deserno. Dazu hat seine Mitarbeiterin Dr. Vanessa Scholz die Daten von 93 Männern und Frauen im Alter von 12 bis 42 Jahren ausgewertet, die am Computer drei verschiedene Aufgaben lösen mussten: spielerische Aufgaben, die die Annäherung an Belohnung und Bestrafung testen sowie Aufgaben zum Umlernen von Entscheidungen und zur Planung von Entscheidungen. „In solchen Experimenten sehen wir, wie die Studienteilnehmenden aufeinander folgende Entscheidungen planen, wie schnell sie sich anpassen, wenn sich der Zusammenhang zwischen Entscheidung und Ereignis plötzlich ändert, und wie die Entscheidungen von positiven und negativen Ereignissen abhängen“, schildert Vanessa Scholz.

„Computational Psychiatry“

Bevor die Psychologin vor vier Jahren nach Würzburg in die Arbeitsgruppe von Lorenz Deserno kam, arbeitete sie als Postdoktorandin in den Niederlanden im Bereich der Verhaltensmodellierung. Dabei geht es darum, menschliches Verhalten und kognitive Prozesse mit Hilfe von mathematischen Modellen und Computersimulationen zu verstehen. Bei der Verhaltensmodellierung ist nicht allein das konkrete Ergebnis ausschlaggebend, also welche Entscheidung getroffen wurde, sondern wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist, was psychologisch und biologisch passiert ist, dass ich mich zwischen A und B entschieden habe. „Jedes Modell bildet verschiedene Prozesse ab und stellt eine Hypothese dar. So baue ich aus ganz einfachen Modellen immer komplexere Modelle“, erklärt Vanessa Scholz. Und das sei in der Entwicklungspsychiatrie besonders spannend. „Denn mit den Modellen können wir in unserem Fall ganz konkret verschiedene Entscheidungswege vergleichen und zum Beispiel reflektierte von verrauschten Prozessen trennen.“

„Computational Psychiatry“ ist das Stichwort. Dieser Forschungsansatz, bei dem Methoden der theoretischen Computational Neuroscience direkt mit der Psychiatrie verknüpft werden, ist in der Kinder- und Jugendpsychiatrie relativ neu. Weltweit gibt es nur vereinzelte Arbeitsgruppen, die diesen Forschungsansatz in der Entwicklungspsychiatrie anwenden. „Hier hat Würzburg fast ein Alleinstellungsmerkmal“, betont Lorenz Deserno. Der Mediziner hat sich bereits in London intensiv mit Computational Psychiatry beschäftigt, bevor er nach Würzburg ans Zentrum für Psychische Gesundheit kam.

Das Inkonsistente war bei allen drei Experimenten konsistent

Vanessa Scholz erklärt, was ihre aktuellen Modellierungen ergeben haben: „Das Niveau des Rauschens pro Individuum war über die drei Experimente sehr konsistent. Das zeigt uns, dass das Rauschen keine gezielte Exploration ist, sondern hier noch eine kontextunabhängige Eigenschaft. Diese Eigenschaft sollte im Laufe der Entwicklung abnehmen, weil man ja eigentlich kontextadaptiveres Verhalten erlernen will.“ So können die meisten Erwachsene besser vorausdenken, planen und sich anpassen als Jugendliche, weil ihre kognitiven Fähigkeiten in der Regel ausgereifter sind.

Welche klinische Relevanz hat das Rauschen?

In allen Experimenten beobachteten die Forschenden eine altersabhängige Zunahme der komplexen kognitiven Prozesse. Der stärkere Effekt war jedoch die Abnahme des Entscheidungsrauschens. Völlig neu an dieser Arbeit ist, dass die Forschenden diese beiden Stränge zusammengeführt haben und zeigen konnten, dass sie proportional zusammenhängen: Die Zunahme der Komplexität von Prozessen scheint von der Abnahme des Entscheidungsrauschens abhängig zu sein. Das Entscheidungsrauschen hätte also eine Bedeutung für die altersabhängige Entwicklung. Lorenz Deserno folgert daraus: „Inkonsistente Entscheidungen könnten der Erkundung oder dem Ausprobieren neuer Verhaltensweisen und Kontexte dienen und damit eine gesunde Entwicklung spezifischer und komplexer kognitiver Prozesse ermöglichen. Wenn Entscheidungen jedoch zu oft inkonsistent bleiben, kann dies die Entwicklung komplexer kognitiver Prozesse und des Gehirns negativ beeinflussen.

Kognitive Kompetenz bei ADHS stärken oder Rauschen reduzieren?

Das könnte zum Beispiel für Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, relevant sein. So untersucht das Team derzeit, ob inkonsistente Entscheidungen bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS eine zentrale Rolle bei der Erkrankung spielen und möglicherweise ein Ansatzpunkt für verbesserte Therapien sein könnten. Ist die etwas reduzierte kognitive Leistung von Kindern mit ADHS eine Folge des Rauschens, oder ist das für Kinder mit ADHS typische sprunghafte eine Folge der reduzierten kognitiven Leistung? Sollte die kognitive Leistung des Kindes gestärkt oder das Rauschen reduziert werden, damit das Kind kognitiv stärker werden kann?

Generell wirft der Entscheidungsprozess, der eine Systemeigenschaft zu sein scheint, viele weitere Fragen auf. Zum Beispiel wäre es interessant, im Längsschnitt zu beobachten, wie schnell und wann genau das Rauschen abnimmt. Sind Menschen, bei denen das Rauschen schneller abnimmt, gesünder als andere oder umgekehrt? Was ist bei Erwachsenen noch Rauschen, was gezielte Exploration oder einfach Neugier, nach dem Motto: „Ich probiere heute ganz bewusst das Knoblaucheis mit Knallzucker“.


Publikation:

Vanessa Scholz, Maria Waltmann, Nadine Herzog, Annette Horstmann, Lorenz Deserno (2024) Decrease in decision noise from adolescence into adulthood mediates an increase in more sophisticated choice behaviors and performance gain. PLoS Biol 22(11): e3002877. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3002877

Kooperation und Förderung: 

Die Studie wurde in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig durchgeführt und unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). 

Text: Kirstin Linkamp / UKW 

Lorenz Deserno und Vanessa Scholz vor alten Torbogen des Zentrums für Psychische Gesundheit.
Dr. Vanessa Scholz und Prof. Dr. Lorenz Deserno, Leiter der Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie" an der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Würzburg (UKW), zeigen in ihrer neuesten Studie, dass die Zunahme der Komplexität von Prozessen und die Abnahme des Entscheidungsrauschens proportional zusammenhängen. © Kirstin Linkamp / UKW
Kinder und Jugendliche treffen oft impulsive und inkonsistente Entscheidungen, zum Beispiel bei der Auswahl einer Eissorte. Erwachsene hingegen entscheiden überlegter. Die Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie“ des Universitätsklinikums Würzburg fand heraus, dass die Fähigkeit zu überlegtem Entscheiden im Jugendalter zunimmt und impulsive Entscheidungen abnehmen. Diese Entwicklung könnte wichtig für komplexere kognitive Prozesse sein, wie in ihrer Studie in PLOS Biology beschrieben. © UKW

Klinische Genetik wird ausgebaut: Prof. Dr. Anke K. Bergmann neu an der Universitätsmedizin Würzburg

UKW wird Teil des bundesweiten Modellvorhabens zur Genomsequenzierung

Neu an der Universitätsmedizin Würzburg: Prof. Dr. Anke K. Bergmann.
Neu an der Universitätsmedizin Würzburg: Prof. Dr. Anke K. Bergmann. Foto: UKW / Anke K. Bergmann (privat)

Würzburg. Die Universitätsmedizin Würzburg stärkt die Genommedizin mit Professorin Anke Katharina Bergmann. Sie wurde auf die Professur für Klinische Genetik und Genommedizin an die Medizinische Fakultät berufen. Ihre Tätigkeit in Würzburg hat sie im September 2024 aufgenommen.

In der Krankenversorgung ist sie u.a. an das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZESE) des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) angebunden. Zuvor war sie stellvertretende Direktorin des Instituts für Humangenetik der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).

„Gemeinsam mit den anderen Fachdisziplinen möchte ich die Genommedizin noch stärker in die klinische Diagnostik, Prävention und Therapie integrieren. Durch eine genetische Diagnostik und eine klinische Interpretation der jeweiligen Erbinformationen können wir die Kolleginnen und Kollegen dabei unterstützen, Krankheitsbilder besser zu verstehen und so dazu beitragen, individuelle Therapien einzuleiten und ggf. zielgereichte Präventionsmaßnahmen für die Patienten und deren Angehörige anbieten“. Damit leiste die klinische Genetik wichtige Voraussetzungen für eine personalisierte Medizin und fördert somit die zukunftsorientierte Ausrichtung des Standorts Würzburg. 

Stärkung der personalisierten Medizin

Der Nutzen personalisierter Medizin zeige sich nicht nur bei den sogenannten „Seltenen“ Erkrankungen, sondern auch bei onkologischen Erkrankungen. Prof. Bergmann: „Speziell in der Krebsmedizin hat die Genomik stark an Bedeutung gewonnen.“ In Hannover baute sie u.a. die nationale genetische Referenzdiagnostik für die akute lymphatische Leukämie (ALL) im Kindesalter auf, der häufigsten Krebserkrankung bei Kindern. Diese Referenzdiagnostik wird nun mit Prof. Dr. Bergmann ebenfalls aus Hannover nach Würzburg wechseln. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das EU-Projekt „CAN.HEAL“, das Teil des europäischen Krebsbekämpfungsplans (EBCP) und dessen Koordination Prof. Bergmann in Hannover inne hatte.

Am UKW stärkt Prof. Bergmann zudem die Teilnahme am bundesweiten Modellvorhaben zur Genomsequenzierung, das ein Ergebnis der Nationalen Strategie für Genommedizin ist. Dabei wird das Erbgut von Patientinnen und Patienten mit Verdacht auf eine Seltene erbliche Erkrankung oder Krebserkrankung sequenziert. Dieses Modellvorhaben ist auf fünf Jahre angelegt, aktuell beteiligen sich 27 Universitätskliniken daran. Prof. Bergmann: „Dadurch wird den Patientinnen und Patientinnen eine hochinnovative Diagnostik ermöglicht, gleichzeitig werden neue Erkenntnisse gewonnen, die dann auch auf weitere Krankheitsbilder übertragen werden können, um perspektivisch die Genomsequenzierung auch in die Regelversorgung zu übertragen. Genau diese Translation auch in die Grundlagenforschung und interdisziplinäre Zusammenarbeit ist für mich eine Stärke der Würzburger Universitätsmedizin.“ Das werde auch einen direkten Einfluss auf die innovative Patientenversorgung haben, so die Genommedizinerin: „Der große Vorteil an der interdisziplinären Verzahnung liegt darin, dass wir so die Sequenzierungsdaten des Erbgutes mit weitere klinischen und diagnostischen Daten zusammenführen können. Das unterstützt die behandelnden Ärztinnen und Ärzte in den Kliniken enorm.“

„Wichtiger Bestandteil der zukünftigen Medizin“

„Mit der Berufung von Prof. Dr. Bergmann und der kommenden Etablierung des Instituts für klinische Genetik und Genommedizin am UKW werden die bestehenden Möglichkeiten der personalisierten Diagnostik und Therapie konsequent ausgebaut. Damit stärkt sie die enorme Innovationskraft am UKW. Eine Genomsequenzierung kann für betroffene Patienten eine klare Diagnose und gegebenenfalls Therapiemöglichkeit ergeben und damit die Versorgungssituation erheblich verbessern“, betont PD Dr. Tim von Oertzen, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender am UKW. Prof. Dr. Matthias Frosch, Dekan der Medizinischen Fakultät in Würzburg, erklärt: „Die klinische Genetik ist ein elementarer Bestandteil für die zukünftige Medizin. Prof. Bergmann wird dieses Fachgebiet hier in Würzburg entscheidend voranbringen. Davon profitieren auch Forschungsprojekte unterschiedlicher Fachdisziplinen. Ebenso wird das Thema mit ihrer Berufung auch in der Lehre enorm gestärkt.“

Zur Person:

Anke Katharina Bergmann war nach ihrem Medizinstudium in Berlin und Paris und ihrer Promotion an der Charité zunächst an der Harvard Universität in Boston, USA, in der Kinderheilkunde tätig. Bereits damals beschäftigte sie sich mit der genetischen Grundlage von Blutkrankheiten. Danach war sie von 2009 bis 2018 am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Kiel in der Kinderheilkunde und der Humangenetik tätig und war in dieser Zeit auch zwischenzeitlich für Forschungsaufenthalte an der Radboud University in Nijmegen, Niederlande.  

Nach ihrer Habilitation und Facharztanerkennung wechselte sie an die Medizinische Hochschule Hannover. Ab 2019 übernahm sie die Leitung des diagnostischen Labors für postnatale (molekulare) Zytogenetik und Molekulargenetik u.a. für Leukämien & Lymphome, insbesondere auch die nationale genetische Referenzdiagnostik für kindliche Blutkrebserkrankungen. Zusätzlich etablierte sie ihre Forschungsgruppe Personalisierte Genomik. Im Jahr 2020 übernahm sie die Leitung des B-Zentrums seltener syndromaler Erkrankungen des Zentrums für seltene Erkrankungen und seit 2021 war sie stellvertretende Direktorin des Instituts für Humangenetik der MHH, eines der größten humangenetischen Institute Deutschlands.
 

Neu an der Universitätsmedizin Würzburg: Prof. Dr. Anke K. Bergmann.
Neu an der Universitätsmedizin Würzburg: Prof. Dr. Anke K. Bergmann. Foto: UKW / Anke K. Bergmann (privat)